—noch letzte Plätze frei—
Mexikanische Grenzerfahrungen
Vom Alltag an der Mauer zu den USA: Künstlerische und soziale Initiativen
Politische Reise
23.09.-14.10.2017
nach Ciudad Juárez, Mexiko
– mit Exkursionen ins Umland und nach El Paso, USA
Preis: ca. 1.600-1.800 Euro (inkl. Flüge, Unterkunft, Transport)
Fragen & Kontakt: mexiko@iak-net.de
Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez erlangte erstmals durch Frauenmorde in den 1990er Jahren eine traurige Berühmtheit. Vor ein paar Jahren stand der Boomtown als “gefährlichste Stadt der Welt” im Fokus der Medien. Aktuell fällt das Licht der Öffentlichkeit erneut auf Juárez, weil der Mauerbau unter US-Präsident Donald Trump die Grenze zur Zwillingsstadt El Paso erneut verstärken soll.
Weitgehend unbekannt ist, dass Ciudad Juárez sich auch durch eine enorm vielschichtige und aktive Zivilgesellschaft auzeichnet. Sie basiert auf dem Engagement der Mütter von verschwundenen und ermordeten Mädchen. Der Einsatz vieler Menschen für Frieden und Gerechtigkeit während der militä-rischen Besetzung im sogenannten “Drogenkrieg” wurde kaum bekannt. Auch die Arbeit von Organisationen, die diesseits und jenseits der Grenze in direkter Solidarität mit Migrant*innen, Geflüchteten und Abgeschobenen arbeiten, verläuft zumeist im Stillen. Kreative kulturelle und politische Ausdrucksformen wie Hiphop, Street Art und Theater sind in der Grenzstadt mehr als präsent.
Denn gesellschaftliche Ausgrenzung, Marginalisierung und Repression existieren in den weit ausgedehnten Vierteln am Rande der Wüste nicht erst seit dem sogenannten “Drogenkrieg”. Da die Gewalt in der Stadt statistisch enorm zurückgegangen ist, versuchen Kunst- und Stadtteilprojekte nun den öffentlichen Raum in kollektiver Weise zurück zu erobern.
Eine Auswahl all dieser Initiativen und Aktivist*innen möchten wir durch die Reise näher kennenlernen.
Die historische Entwicklung von Ciudad Juárez steht in Zusammenhang mit der Alkoholprohibition in den USA. Über Jahrzehnte war die Stadt mit ihren unzähligen Bars, Diskotheken und Bordellen ein beliebtes Ziel für Tourist*innen und Militärangehörige aus den USA.
Besonders seit den 70er Jahren siedelten sich u.a. US-amerikanische Billiglohnfabriken auf der mexikanischen Seite der Grenze an. Auch deutsche Firmen profitieren von den niedrigen Produktionskosten in Ciudad Juárez. Ciudad Juárez ist und bleibt trotz prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen Anlaufpunkt für Migrant*innen aus ganz Mexiko. Die Stadtplanung vorbei an den Interessen der Bevölkerungsmehrheit sowie Korruption und fehlende Strafverfolgung trugen dazu bei, dass Kriminalität und organisiertes Verbrechen zunehmend an Einfluss gewannen. Seit den 90er Jahren gelangte Ciudad Juárez auf Grund des Phänomens der systematischen Ermordung von Frauen zu trauriger Berühmtheit.
Der machistische Rollback gegen die von traditionellen Geschlechterrollen und Familienstrukturen unabhängige Lebensführung unzähliger junger Frauen durch ein eigenes Einkommen im Maquilasektor führte in Verknüpfung mit der Präsenz der Drogenkartelle und der Zersetzung der politischen Strukturen zum höchsten Ausdruck misogyner Gewalt: dem Femizid. Aufgrund einer fast absoluten Straflosigkeit hat dieser weiterhin Bestand und limitiert die Bewegungsfreiheit von Mädchen und Frauen in der Stadt.
Die Regierungsstrategie, die Stadt zwischen 2008 und 2011 zu militarisieren, führte zu noch mehr Gewalt, einem horrenden Anstieg von Menschenrechtsverletzungen und einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die entstandenen Protestbewegungen, angeführt von den Müttern der Feminizidopfer, führten jedoch zu einer Stärkung und Professionalisierung der Zivilgesellschaft in Ciudad Juárez. Doch die neue “Friedensbewegung” hatte mit Repression und Übergriffen zu kämpfen und besonders Angehörige marginalisierter Bevölkerungsschichten gerieten zwischen die Fronten des sogenannten “Drogenkriegs”.
Im Fokus der Reise steht für uns, welche Auswirkungen einseitige Stadtentwicklung und Gewalteskalation auf den Alltag der Menschen haben. Wenn auch die Gewaltrate in Ciudad Juárez stark zurückgegangen ist, lassen die extremen Erfahrungen Spuren zurück. Die mehreren tausend Toten der vergangenen Jahre reißen bleibende Lücken in ihre Familien und ihr soziales Umfeld. Nach wie vor gehören Verschwindenlassen und Feminizide zum Alltag der Grenzstadt, auch wenn die städtische Regierung versucht, diese Realität zugunsten des wirtschaftlichen und touristischen Aufschwungs auszublenden. Des Weiteren sitzen Tausende marginalisierter Jugendlicher und Erwachsener im Gefängnis, die gefüllt wurden, um den Erfolg der Regierung im angeblichen Kampf gegen die Kartelle zu demonstrieren.
Zehntausende Menschen haben Ciudad Juárez in dieser Periode zwischen 2008 und 2012 verlassen. Viele davon sind auf die US-amerikanische Seite des Rio Grande gezogen und haben dort ein “Little Juárez” im Exil aufgebaut. Denn die texanische Zwillingsstadt El Paso gilt weiterhin als eine der sichersten Städte der USA. Für Flüchtlinge und verfolgte Aktivist*innen im „Drogenkrieg“ wurde sie für viele Jahre zum „safe haven“. Viele andere Menschen konnten es sich hingegen nicht leisten wegzuziehen, bekamen keine Aufenthaltserlaubnis in den USA oder haben sich bewusst dagegen entschieden.
Migration und Flucht über die Grenze in und um Ciudad Juárez ist seit deren Entstehung nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg 1848 eine alltägliche Konstante. In der US-amerikanischen Zwillingsstadt El Paso wurde die Border Patrol gegründet. In den letzten Jahren hat sich die texanische Grenzstadt im Zeichen einer erneut verschärften US-Migrationspolitik zu einem Drehkreuz der Abschiebungen von Kindern und Jugendlichen nach Lateinamerika entwickelt.
Weitestgehend unbeachtet findet die Migration von Angehörigen der Tarahumara aud ländlichen Gegenden des Bundesstaates Chihuahua nach Ciudad Juárez statt. Diese haben angesichts von struktureller Ausgrenzung eine eigene Gemeinschaft am Rande der Stadt gegründet. Aktuell zeigte das Gerichtsverfahren um den rassistischen Mord durch Polizeibeamte an einem jungen Tarahumara die gesellschaftlichen Missstände auf. Die Verweigerung des Einlasses der indigenen Gemeindevorsitzenden Rosalinda Guadalajara in die historische Bar Kentucky sorgte international für Furore.
Wir wollen uns damit beschäftigen, wie eine gesellschaftliche Aufarbeitung und ein künstlerischer Umgang mit Ausgrenzung und Gewalterfahrung in der Stadt gefunden werden. Wie gehen die Menschen vor Ort im Alltag mit den Problemlagen um, welche individuellen und kollektiven Strategien haben sie entwickelt? Woher nehmen sie die Kraft, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren? Welche Träume und Hoffnungen haben Jugendliche in der Region? Wie leben die Menschen in ihrem Alltag mit der Grenze und der Mauer? Wie ist die Situation von Migrant_innen auf beiden Seiten der Grenze? Wie sieht die schwul/ lesbisch/ transsexuelle Szene in Ciudad Juárez und El Paso aus? Welche Lebensrealität hat die indigene Bevölkerung der Grenzregion? Wo steht die Bewegung gegen Frauenmorde?
Ziel der Reise ist es, sich mit der von Globalisierung, Grenzregime und Drogenkrieg geprägten komplexen Realität in Ciudad Juárez auseinanderzusetzen. Dabei wollen wir die Perspektive und Arbeit von Kunst- und Stadtteilkollektiven wie Colectivo Vagón (Film-, Video- und Literaturproduktion) kennenlernen, politische Künstler*innen wie Teresa Margolles (Installationen zu Gewalt und Feminizid) und die Angehörigen von Batallones Femeninos (feministischer HipHop) und Telón de Arena (Theaterensemble) treffen und Orte wie den Mercado del Monu (sonntäglicher Treffpunkt der alternativen Szene der Stadt) und das feministische Besetzungsprojekt La Kantona besuchen.
Daneben sind Ausflüge zu den Sanddünen von Samalayuca und in das Juáreztal geplant, wo sich die narco-Kultur in Altären des Malverde, Heiliger der Drogenkartelle, manifestiert und heute zivilgesellschaftliche Initiativen auf eigene Faust ihre Verschwundenen suchen, sowie nach Villa Ahumada, wo campesino-Kollektive gegen Fracking kämpfen, und nach Casas Grandes, wo sich indigene Kollektive gegen Ausschluss und Armut wehren. Um einen erweiterten Einblick in den Bedeutungsraum der Grenze zu bekommen, wollen wir El Paso, Texas, auf der anderen Seite der Grenze besuchen, wo das Annuntiation House Geflüchteten und Migrant*innen Schutz bietet.
Je nach Interesse der Teilnehmer_innen werden wir inhaltliche Schwerpunkte unserer Reise und Auszeiten zur Erholung und individuellen Gestaltung gemeinsam festlegen. Programmpunkte, Einkäufe und Essen werden in der Gruppe vorbereitet. Neben dem Vorbereitungsseminar in Deutschland werden wir auch auf der Reise Erlebtes und Gehörtes gemeinsam reflektieren und diskutieren. Spanischkenntnisse sind wünschenswert.
Leitung: Ina Riaskov, Dagmar Seybold & Kathrin Zeiske
Ina Riaskov lebt und arbeitet in Mexiko als freischaffende Fotografin, Grafikdesignerin und Soziologin in und zu feministischen Bewegungen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus. https://www.flickr.com/photos/produccionesymilagros
Dagmar Seybold lebte mehrere Jahre in Mexiko und arbeitete im Menschenrechtsbereich. In Ciudad Juárez und El Paso forschte sie zu Frauenmorden, Militarisierung und Medien. Nach einem Einsatz als Friedensfachkraft in Guatemala ist sie heute in der Arbeit mit Geflüchteten in Deutschland aktiv.
Kathrin Zeiske lebt und arbeitet zwischen Deutschland und Mexiko, wo sie einige Jahre für eine Migrant_innenherberge tätig war. Heute schreibt sie als Freie Journalistin über soziale Bewegungen, Drogenkriege und Ressourcenabbau in der Region. http://grenzueberschreitend.blogspot.com/