Kirgistan – Bischkek, Arslanbob, Issyk-Kul

ca. 1. September bis 16. September 2010

Bischkek. Der Zaun des Sitzes der Regierung Anfang mai. Die Löcher, die beim Umsturz vom 7. April in den Zaun gerissen wurden, sind mit Möbeln gestopft.
Bischkek. Der Zaun des Sitzes der Regierung Anfang Mai. Die Löcher, die beim Umsturz vom 7. April in den Zaun gerissen wurden, sind mit Möbeln gestopft.

Durch den Sturz des kirgisischen Präsidenten Kurmanbek Bakiev infolge von seit Monaten andauernden Protesten der Bevölkerung, Besetzungen von Regierungsgebäuden in mehreren Orten und der Erstürmung des Regierungssitzes durch aufgebrachte BürgerInnen am 7. April dieses Jahres, bei dem durch Schusswaffengebrauch (vor allem von Scharfschützen) mehr als 80 Personen getötet und über 1.000 verletzt wurden, war Kirgistan nach langer Zeit einmal wieder kurz, aber weltweit im Fokus der medialen und politischen Aufmerksamkeit. Das ehemalige „demokratische Musterland“ Zentralasiens war zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Frage nach dem „Was ist denn plötzlich da in Fernost los?“ und „Was hat das für Folgen für den Westen?“ dominierte so auch den größeren Teil der Berichterstattung in Europa und den USA. Besonders die Frage nach dem Verbleib oder einer bevorstehenden Kündigung des Vertrages über die US-Luftwaffenbasis Manas durch die neue Regierung unter Roza Otunbaeva beschäftigte Medien und auftretende ExpertInnen. Um die Bedeutung dieses Ereignisses für die kirgisische Bevölkerung kümmerten sich manche KommentatorInnen im Westen gar nicht. Und um die bisherige ziemlich bedenken- und sorglose Kooperation mit und Förderung des zunehmend autoritär und mit massiven Wahlfälschungen regierenden Bakiev durch die EU, USA, (ehemals auch) Russland und internationale Organisationen erst recht nicht.

Auf die Gewalttätigkeit des Umsturzes und anschließende (nächtliche) Plünderungen von Geschäften reagierten etwa deutsche Medien dann eher mit Titeln wie „Kirgistan versinkt im Chaos“ oder „In Bischkek regiert das Chaos“, Politiker gaben sich „sehr besorgt“ und riefen „beiden Seiten dringend zur Mäßigung“ auf. Erst später erfolgten auch Versuche der Analyse für den Sturz Bakievs und der Frage, woher der Unmut in der Bevölkerung stammte sowie daraus folgende Perspektiven Kirgistans. Dabei ging es auch um die Überlebensfähigkeit des Landes, da die Gefahr schwerer ethnischer Konflikte, vor allem im Süden zwischen KirgisInnen und der usbekischen Bevölkerung, aufgezeigt, ja von manchen „ExpertInnen“ geradezu heraufbeschworen wurde und mitunter schon mal Vorschläge für eine ‚sinnvolle’ Verteilung der kirgisischen Oblaste an die Nachbarstaaten nach einem Ende Kirgistans gemacht wurden. Dass diese Gefahr besteht und auch von der Interimsregierung gesehen und mittlerweile angegangen wird, ist unbestreitbar. Gleichzeitig gab es schon früh Demonstrationen und Verlautbarungen im Süden für die Einheit des Landes, und häufiger stecken hinter den gegenwärtig schwelenden Konflikten mafiöse und Familienclan-bezogene Auseinandersetzungen, die z. T. durch AnhängerInnen Bakievs geschürt werden und z. T. auch entlang ethnischer Linien verlaufen. Die Interimsregierung hat sie bisher einzudämmen gewusst und auch weiterhin Parteigründungen rein entlang ethnischer oder religiöser Linien mit Blick auf die Parlamentswahlen verboten.

Die gegenwärtigen Einschätzungen in der Bevölkerung scheinen sich zwischen zukunftsfrohem Optimismus, gerade unter einigen Jüngeren, gut Ausgebildeten, und großer Skepsis und Misstrauen gegenüber der Regierung Otunbaeva (und überhaupt allen PolitikerInnen), gerade aus der Erfahrung der enttäuschten Hoffnungen nach der „Tulpen-Revolution“ 2005 heraus, auszudifferenzieren. Damals war Bakiev durch eine unblutige Revolution an die Macht gekommen und hatte weitreichende Reformen und das Ende der korrupten Herrschaft seines Vorgängers Askar Akaev angekündigt, aber schnell den Kurs Akaevs übernommen und noch verstärkt. Bakiev zurückhaben wollen daher nur ein paar enge Vertraute und von ihm Begünstigte. Die neue Regierung hat mithilfe von freiwilligen Bürgerwehren relativ schnell – in den meisten Landesteilen – für Ordnung und Sicherheit gesorgt, trotz aller immer wieder aufkeimenden Auseinandersetzungen und Konflikte, etwa um Land; von Bakiev privatisierte Betriebe wurde rückverstaatlicht und Abgabenerhöhungen für die Bevölkerung zurückgenommen; eine neue Verfassung, die die Macht des Präsidenten deutlich reduziert und die des Parlaments vergrößert, wird im Juni zur Abstimmung vorgelegt und „demokratische Neuwahlen“ im nächsten Jahr wurden ausgerufen. Andererseits dämpfen Meldungen über Ansätze wiederum auftauchender Vettern- und Günstlingswirtschaft, Streitereien und Machtstreben unter den Regierungsmitgliedern und der Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit oder Unwilligkeit manchen gesellschaftlichen Problemen gegenüber bei vielen KirgisInnen die Hoffnung auf eine ganz andere, positiv-demokratische Regierung. Die Plünderungen und wochenlangen Grenzschließungen nach Kasachstan haben gerade Klein-HändlerInnen und Kaufleute (fast) in den Ruin geführt. Zudem brodelt munter die Gerüchteküche und schürt Bakiev aus Belarus mithilfe seines Familienclans Zwietracht. Keine rosige Lage…

Es bleibt abzuwarten, ob der zweite durch eine Revolution erfolgte Regierungswechsel im Land staatliche Instabilität und die Unsicherheit bedeutet, dass dies stets wieder passieren kann, wenn ein/e machtgierige/r PolitikerIn genügend Leute auf seine/ihre Seite zieht – oder ob dies stattdessen für die Regierung Otunbaeva und die nachfolgenden einen „erhobenen Zeigefinger“ darstellt, sich künftig im Regieren stärker an den Willen und das Wohl der Bevölkerung zu halten. Zentrale Frage dabei ist zudem, ob es der neuen Regierung langfristig gelingen wird, Staat und Gesellschaft, die auf allen Ebenen durch extreme Korruption und geringe Rechtsstaatlichkeit und -treue gekennzeichnet sind, in eine neue, funktionalere Richtung zu lenken und ein stärkeres soziales Bewusstsein zu schaffen.

Auf unserer Reise wollen wir mit VertreterInnen von NGOs und sozialen Projekten, möglichst auch mit VertreterInnen der neuen Regierung sowie JournalistInnen, PolitologInnen, WissenschaftlerInnen und diesmal vor allen auch KünstlerInnen und im Kulturbereich aktiven Personen sprechen. Letztere vor allem deswegen, da sie unter Bakiev nur in prekärer Lage arbeiten konnten. Staatliche Förderungen erhielten bisher nur einige wenige und zumeist „HofkünstlerInnen“. Die Kreativen waren meist auf (internationale) Stiftungsgelder oder private Förderer angewiesen. Allein durch diese Situation waren sie schon gezwungen, ihre („die“) gesellschaftliche Situation zu reflektieren. Dass es jenseits der für die Wohnzimmer der TouristInnen und Reichen und traditionell malenden KünstlerInnen eine kleine vitale und vielseitige Kunstszene gibt, die sehr aktiv im Bereich Film und Fotografie, aber auch in der Malerei, Skulptur und anderem tätig ist, dürfte selbst den meisten Kirgistanvertrauten und z. T. Einheimischen nicht bekannt sein.

Einige KünstlerInnen und im Kulturbereich arbeitende sind zudem auch in sozialen Projekten tätig, etwa mit Kindern im Rahmen von Kunstworkshops in einer privaten Galerie (B’Art Center) oder mit Straßenkindern in Theatergruppen als Teil eines Berufsförderprojekts. Diese wollen wir ebenfalls besuchen und uns die Verbindung kreativer und sozialer Ansätze ansehen sowie deren mögliche Bedeutung für eine stärkere Partizipation und Demokratisierung der Gesellschaft „von unten“ diskutieren. Diverse „Kreative“ verfügen zudem über Auslandserfahrungen und Kooperationen mit ausländischen KünstlerInnen, aufgrund derer ein erweiterter Blick auf die kirgisischen Lebensumstände zu erwarten ist. Insgesamt geht es, wie es Yuristanbek Shigaev, Maler und Direktor des Nationalmuseums für bildende Künste in Bishkek, Ende Mai dieses Jahres formulierte, aus dieser Perspektive um „the state of contemporary art in Kyrgyzstan that in times of change reflects distinct trends requiring its own interpretation and comprehension”. Die neue Regierung hat verkündet, die Kulturförderung im Rahmen des Kulturministeriums zu erneuern und auszuweiten. Es bleibt abzuwarten, in welcher Form dies geschieht.

Von unseren GesprächspartnerInnen aus den verschiedensten Bereichen möchten wir erfahren, was sie als die wichtigsten Probleme sehen, die die neue Regierung und die kirgisische Gesellschaft zu bewältigen hat, wie sie die aktuelle Situation einschätzen, warum es zur „zweiten Revolution“ gekommen ist (die im letzten Jahr wohl noch niemand erwartete), wie sich in ihren Augen die Gesellschaft verändert hat und was sie tun, um selbst Veränderungen zu erreichen. Der NGO-Sektor spielt in Kirgistan schon länger eine wichtige Rolle: Er hat in den letzten Jahren unter Bakiev die demokratischen Prozesse im Land zwar immer weniger beeinflusst, übernimmt aber viele Funktionen, die der Staat und seine Sozialsysteme aus Geldmangel nicht erfüllen können. Viele politisch und im sozialen Bereich Aktive hoffen zudem aktuell auf eine Stärkung dieses Sektors. Bei unseren Gesprächen möchten wir versuchen, die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Bedingungen zu verstehen. Dabei werden wir viel über die Probleme postsozialistischer Gesellschaften, den Versuch des „nation buildings“ und das Scheitern westlicher Demokratisierungspolitik sowie auch über unser eigenes politisches Denken und Handeln lernen.

Die Auswahl möglicher GesprächspartnerInnen und ihre Spezialisierungen sind groß. Wie wir konkret unser Programm gestalten, werden wir gemeinsam auf einem Vorbereitungsseminar entscheiden, das voraussichtlich im Juli stattfindet.

Trotz aller aktuellen und teilweise seit Jahren virulenten Probleme hat Kirgistan nicht nur viele ausgesprochen interessante GesprächspartnerInnen zu bieten, sondern ist auch ein großartiges Reiseland: Atemberaubende Landschaften im Hochgebirge des Tian-Shan, hervorragendes (jedoch sehr fleischlastiges) Essen oder den grandiosen See Issyk-Kul. Außer dem Straßenverkehr ist das Land sicher für Reisende. Selbstverständlich beobachten wir die politische Lage aufmerksam, haben vertraute PartnerInnen vor Ort und können unsere Reisepläne auch kurzfristig umdisponieren. Unser Programm wird zwar mitunter dicht und anstrengend sein, aber auf jeden Fall ausreichend Zeit bieten, um Stadt und Land zu erkunden. Zudem lässt sich die Reise problemlos verlängern.

Der erste Teil unserer Reise wird in Bischkek und im nahen Umland stattfinden. Anschließend möchten wir mit Euch nach Arslanbob im Süden fahren, wo wir in den wunderschönen Walnusswäldern (vermutlich sogar in der Erntezeit!) privat unterkommen, ausgiebige Wandertouren und Gespräche, etwa über Umweltschutz, die Probleme der Landnutzung, aber auch die Prägung der Region durch die usbekische Minderheit und diesbezügliche Konflikte führen werden. Der Abschluss unserer Reise wird dann am Issyk-Kul-See stattfinden. So sollten wir einen Einblick in sowohl die städtische wie auch ländliche Lebenssituation bekommen.

Das Vorbereitungsteam kennt sich im Land gut aus (ein Teil ist einheimisch und muttersprachlich, der andere hat es zweimal länger bereist).

Besondere Sprachkenntnisse sind nicht unbedingt erforderlich. Grundlegende Englischkenntnisse sind von Vorteil. Russischkenntnisse eröffnen vollständige Selbständigkeit, Türkisch eröffnet einen ersten Zugang zur kirgisischen Sprache. Es wird russisch-deutsch/englisch gedolmetscht.

Teilnahmebeitrag: ca. 800-900 Euro. Im Teilnahmebeitrag sind Vorbereitungstreffen, Visa, Flugkosten, Fahrtkosten im Land und Unterkunft (wir werden wieder eine Wohnung im Stadtzentrum Bischkeks mieten) enthalten.

Für diese Veranstaltung wird bei Bedarf die (sehr wahrscheinliche) Anerkennung als Bildungsurlaub nach dem Berliner Bildungsurlaubsgesetz beantragt.

TeamerInnen: Nazira Alymbaeva und Marc Schwietring

Infos und Anmeldung: kirgistan (ett) iak-net.de


 

Wir erweitern unsere Linkliste zu Kirgistan und Zentralasien laufend. Ein Blick lohnt sich immer.

Außerdem möchten wir Euch auf unseren Artikel mit zahlreichen Links zu den Ereignissen im April 2010 in Kirgistan hinweisen.

Kirgistan: Kultur & Politik nach der Revolution
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