Mit einer politischen Reisegruppe zu Besuch in Helsinkis Stadtbibliothek Oodi
Ein Bericht von unserer Reise nach Finnland 2021
Von Lambert Heller (Homepage / Twitter)
Die Oodi-Stadtbibliothek wird auch als Wohnzimmer Helsinkis bezeichnet. Das glaslastige, wellenförmige Gebäude mitten im Zentrum, ist von der Mannerheimintie, der “Präsentiermeile” Helsinkis aus, kaum zu übersehen. Als wir als Gruppe das Gebäude betraten, um an der verabredeten Führung durch das Haus teilzunehmen, fand im weiten Foyer des Hauses ein kleines Schachturnier und ein Schach-Workshop an mehreren kleinen Tischen statt. Hinter dem Tresen des Informationszentrums im Foyer hing ein Poster mit der Aufschrift (sinngemäß): “Was würdest Du mit 88 Millionen Euro tun?” Die Frage spielt auf die politische Entscheidung Finnlands und der Stadt Helsinki an, sich zum 100. Jahrestag der finnischen Unabhängigkeit mit dieser Summe eine neue Stadtbibliothek zu leisten. Mit einem Jahr Verspätung öffnete die Bibliothek schließlich im Dezember 2018 zum 101. Jahrestag.
Mit deutschem Berufshintergrund auf ausländische Bibliotheken schauen
Kurz ein Wort zu meiner Perspektive und mir: Seit 2004 bin ich beruflich an Bibliotheken in Deutschland beschäftigt und von 2005 bis 2007 habe ich ein Bibliotheksreferendariat in Berlin absolviert. Letzteres umfasste auch einen Monat Referendariat an einer Bibliothek im ägyptischen Alexandria. Obwohl ich regelmäßig internationale Kongresse oder andere Events des Bibliothekswesens besucht habe, ist mein Blick stark von deutschen Bibliotheken und dem dazugehörigen Diskurs geprägt. Einen unbefangenen Blick auf die Oodi hatte ich daher natürlich nicht. Aus deutscher bibliothekarischer Perspektive wurden skandinavische Bibliotheksneubauten der letzten Jahrzehnte oft geradezu gefeiert (vgl. Berichterstattung des größten deutschsprachigen Bibliotheksorgans BuB über den Oodi-Neubau). Das ist übrigens nichts Neues: Galt Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg noch als eine weltweit führende Nation in Sachen Bibliotheken, wurden Bibliotheken danach eher in anderen Ländern weiterentwickelt. Einen Nachkriegsimpuls setzte insbesondere die Errichtung der Amerika-Gedenk-Bibliothek (AGB) in Berlin in den 1950er-Jahren, in der das amerikanische Konzept der „Public Library“ in Deutschland Einzug erhielt.
Mit der Amerika-Gedenk-Bibliothek im Kopf vor der Oodi stehen
Mit dem Konzept der AGB im Hinterkopf, erschließt sich die Modernität des Oodi bereits vor dessen Eingang stehend: Der Eingang ist ebenerdig, selbsterklärend, und eine breite Glasfront bietet visuelle Einblicke in die diversen Angebote des Gebäudes. Im Foyer ist bereits ein bauliches Detail zu sehen, dass sich regelmäßig im Gebäude wiederholt: „Parkflächen“ für Kinderwägen, die durch Bodenmarkierungen an Eingängen und Rolltreppen angezeigt werden. Nicht nur, aber ganz besonders hinsichtlich der Kinder, zeigt sich an vielen kleinen derartigen Gestaltungsmerkmalen, wie einfühlsam und kreativ Ansprüche unterschiedlicher Zielgruppen im Architekturentwurf der Bibliothek berücksichtigt wurden. Dass bei der Konzeption und Einrichtung mit partizipativen Methoden gearbeitet wurde, wie uns dann bei der Führung durch das Gebäude erzählt wird, glaube ich gerne.
Auf verschiedene Weise mal nichts tun
Auf der obersten Ebene gibt es Lesebereiche, die besonders behaglich sind, zum Verweilen einladen und tatsächlich an Wohnzimmer erinnern. Doch was heißt denn “behaglich” und ist das eine reine Geschmacksfrage? Nicht ganz. Ich hatte das Gefühl, an verschiedenen Orten innerhalb der Oodi nichts Bestimmtes tun zu müssen, sondern eben auf unterschiedliche Weise einfach verweilen zu können. Oder auch einfach darüber erstaunt zu sein, was man hier alles tun könnte, wenn, verbunden mit einer kostenlosen Bibliotheksmitgliedschaft, eines der besonderen Angebote gebucht würde. Ein großer Teil der mittleren Etage besteht aus Räumen mit Glaswänden, die für ganz spezifische Dinge mitsamt entsprechender Ausstattung genutzt werden können. Unter anderem gibt es ein Musikstudio mit professioneller Ausstattung und Instrumenten, und den unvermeidbaren Makerspace mit verschiedenen 3D-Druckern und Lasercuttern.
Ist das noch Bibliothek, und wenn ja, warum darf es das sein?
Meine Kollegin Gabriele Fahrenkrog berichtete über ihren Besuch im Jahr 2017 der Bibliothek Dokk1 im dänischen Aarhus und bemerkte eine Irritation ihres deutschen Blicks. Dokk1 und auch Oodi werfen die fast besorgniserregende Frage auf: Sind das überhaupt noch Bibliotheken? Gabriele bejahte das. Ihr zufolge schreiben diese neuen nordischen Bibliotheken das Konzept der modernen „Public Library“ fort, einladende und vielfältige Orte zu sein, die von unterschiedlichen Gruppen vor Ort genutzt werden – ein elementarer Aspekt der modernen öffentlichen Bibliothek. Im Gespräch mit Gabriele nach unserer Finnlandreise 2021, machte sie mich darauf aufmerksam, dass dies im deutschen Bibliotheksdiskurs leider oft missverstanden werde. Stattdessen werden einzelne Angebote mit einem Fokus auf den Aspekt der technisch-praktischen Umsetzung herausgegriffen, ohne zu verstehen, dass die Leitung und Konzeption einer neuartigen Bibliotheken vorrangig eine Weiterentwicklung der Arbeits- und Nutzungsweisen erfordern. In ihrem Bericht geht Gabriele zudem auf die politisch und rechtliche Sonderstellung ein, die Bibliotheken in vielen anderen Ländern zugutekommt. So legen Bibliotheksgesetze in manchen Ländern eine angemessene Versorgung der Bevölkerung mit breiten Angeboten fest und räumen Bibliotheken gleichzeitig eine hohe Autonomie in der Umsetzung ein. Zwar ändert sich dieser Aspekt in den letzten Jahren auch in Deutschland, aber meistens gleicht das eher einem „langsamen Hinterhertrotten“.
Ein weiteres Aha-Erlebnis: Die Bibliotheksfiliale im Iso Omena in Stadtteil Matinkylä von Espoo
Einige Tage später besuchten wir mit unserer Reisegruppe das Iso Omena Shopping Centre in Matinkylä. Bei dieser Mall handelt es sich um ein umfangreich ausgestattetes Einkaufszentrum, das auch die Endhaltestelle der unterirdischen Metro Helsinkis mit Umsteigemöglichkeit zu lokalen Bussen beherbergt. In der obersten Etage des Gebäudekomplexes befindet sich ein Servicezentrum der Stadt Espoo, in dem verschiedene soziale und medizinische Dienstleistungen angeboten werden – sogar Beratungsstellen für Drogenabhängige und ein Röntgenlabor. Dieses Servicezentrum beherbergt eine kleine Filiale des Bibliothekszusammenschlusses der Metropolregion „HelMet“. Was während unserer kurzen Besichtigung auffällt: Trotz der relativ geringen Größe enthält die kleine Bibliothek bemerkenswert viele unterschiedliche Dienste, unter anderem mehrere Plattformen zum Ausleihen von Online-Medien, Leseplätze und verschiedene Medientypen, darunter auch Brettspiele. Selbstverständlich können alle im „HelMet“-Verbund entliehenen Medien an jedem anderen der 64 Standorte zurückgegeben werden. Ich beobachte hier das gleiche Muster, das mir bereits in der Oodi auffiel: Die Bibliotheken eröffnen direkt vor Ort einen sehr diversen und vielfältigen Mix an Angeboten für die lokale Nutzer*innen. In Espoo, wo viele Einwohner*innen mit Migrationshintergrund leben, stellt sich die Bibliothek zusätzlich ganz speziell auf diese Zielgruppe ein, beispielsweise in Form von Sprachlernveranstaltungen wie einem regelmäßigen Café-Termin, bei dem die Gelegenheit besteht, Finnisch zu lernen und zu sprechen.
Die Bilder wurden dankenswerterweise vom Autor und vom Reiseteilnehmer Gabriel Birke zur Verfügung gestellt.