Heute treffen wir uns in einer Gedenkstätte gegen Femizide mit mehreren Aktivistinnen. Campo Algodonero (zu Deutsch Baumwollfeld) ist ein seltsamer Ort: ein eingezäuntes, gepflegtes Parkgrundstück mit Gedenktafeln und einer Frauenstatue, etwas anonym wirkend. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte 2009 Ciudad Juárez dazu, einen Ort der Erinnerung an mindestens acht ermordete Frauen zu errichten, deren Leichen 2001 in der Stadt in einem Baumwollfeld gefunden wurden. Anders als zahlreiche Mahnmale gegen Femizide, die Angehörigen und Aktivist*innen gestaltet haben, ist Campo Algodonero also ein staatlich geschaffener Ort. Nach Einschätzung unserer Gesprächspartnerinnen dient er der Stadt auch als Feigenblatt sobald es um die zahlreichen, systematischen Frauenmorde geht, die in Ciudad Juárez seit mehr als 30 Jahren verübt werden.
Wir sprechen mit Diana Morales, Ex-Sonderstaatsanwältin für Gewalt gegen Frauen, und Reyna de la Torre, Aktivistin und Mutter der 2020 ermordeten Isabel Cabanillas. Isabel war Künstlerin, Aktivistin und gehörte zum Umfeld unseres Juarlín-Netzwerks.
Diana betont den Zusammenhang zwischen Frauenmorden und Arbeitsbedingungen in den Weltmarktfabriken, in denen ab den 1990ern verstärkt Frauen angestellt wurden, weil sie angeblich feinmotorisch begabter wären. Tatsächlich sei es der Arbeitgeberschaft aber darum gegangen, dass Frauen weniger Lohn gezahlt werden kann und sie für weniger aufsässig gehalten werden als männliche Arbeiter. Viele Arbeiterinnen waren minderjährig; teils fälschten sie ihre Personaldokumente, um in den maquilas eigenes Geld verdienen zu können.
Ab 1996 häuften sich die Frauenmorde. Von Anfang an blieben die Behörden weitgehend untätig, so dass sich vor allem die trauernden und zornigen Mütter, Schwestern und Tanten der Ermordeten gezwungen sahen, eigene, zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen, um für Aufklärung und Gerechtigkeit zu sorgen. Sie erkämpften sich das Wissen, dass viele Morde planvoll verübt wurden. Die Opfer entsprachen meist einem bestimmten Typ: jung, eher dunkler Teint, langhaarig, Arbeiterin; und sie wurden vergewaltigt und nach bestimmten Mustern verstümmelt und anschließend an öffentlichen Orten abgelegt. Als Ursache benennen Reyna und Diana die Machtkämpfe unter Kartellen und reichen Unternehmerfamilien, die die Stadt de facto regieren und keine Strafen fürchten müssen, wenn sie Frauen wie Objekte für eigene Zwecke missbrauchen und töten. Unsere Gesprächspartnerinnen sprechen von gewalttätigen Orgien, Vergewaltigung auf Bestellung und Snuff-Gewaltvideos. Zugleich stellen sie heraus, dass der machismo kein elitäres, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist: Versäumt es der Staat, systematische Femizide zu sanktionieren, steigt die Gewalt gegen Frauen in der ganzen Gesellschaft. Zudem hat der Einsatz des Militärs in der Stadt im Zuge des sogenannten Drogenkriegs die Gewalt gegen Frauen noch weiter gesteigert, z.B. durch Vergewaltigungen während Hausdurchsuchungen. Leider schließen sich auch manche Angehörige dem angebotenen sexistischen Narrativ an, die Ermordete wäre promiskuitiv oder drogenabhängig gewesen, sonst wären sie nicht getötet worden.
Im Nachhinein diskutieren wir besonders, dass das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs das fehlende Recht auf Stadt der Frauen in Ciudad Juárez anprangert. Ein besser ausgebauter öffentlicher Nahverkehr, am besten mit gesonderten Frauenabteilen, Ansprechstellen für Betroffene sexueller und häuslicher Gewalt, ausreichende Straßenbeleuchtung und sichere, kostenfreie Orte zum Verweilen könnten die Gefährdung von Frauen und damit die Femizide verringern.
Auch der Charakter von Ciudad Juárez als Transitstadt muss in diesem Zusammenhang gesehen werden: Denn es gibt kaum langfristig gewachsene Nachbarschaften und andere soziale Unterstützungsstrukturen. Im Gespräch mit Mitarbeiterinnen der NGO Derechos Humanos Integrales en Acción erfahren wir außerdem, dass sich die traumatischen Erfahrungen von Menschen, die lange und gefährliche Wege bis an die US-Grenze hinter sich gebracht haben, oftmals hier in Ciudad Juárez Bahn brechen: Während sie auf eine ungewisse Zukunft warten, werden Männer und Jungen mitunter gewalttätig – entweder in intimen Beziehungen oder im Auftrag der Kartelle.
Wir verdanken unseren Gesprächspartnerinnen also wichtige Einsichten, auf wie vielen Ebenen Femizide mit der neoliberalen Barbarisierung der Gesellschaft verwoben sind und mit welchen sozialen, stadtpolitischen, antirassistischen und weiteren feministischen Kämpfen sie in Angriff genommen werden können.
Campo Algodonero ist ein seltsamer Ort. Wie gut, dass Angehörige und Aktivist*innen ihn sich dennoch angeeignet haben. Überall wurden rosa Kreuze mit der Aufschrift Ni Una Mas errichtet und die weißen Wände bemalt: mit den Namen der Ermordeten – Isa(bel) Vive etwa –, bunten, floralen, traumähnlichen Zeichnungen und dem bitteren Spruch: El machismo es una plaga (zu Deutsch in etwa: Machismus ist eine Seuche/Landplage). Da die Wandgemälde von der Stadt regelmäßig entfernt werden, müssen die Frauen sie immer wieder erneuern. Auch wir werden eingeladen, uns mit Pinsel und Farbe zu betätigen; und als wir Campo Algodonero verlassen, prangt ein neues Gemälde an der Wand: ein Gewächs mit vielen verschiedenen Blüten, die in alle Richtungen treiben. ¡Florecemos juntas! Gemeinsam blühen wir auf!
Von Koschka