Aus dem Blog unserer Reise nach Mexiko 2024
Von Petra
Der Kampf um die Straßen
Auch die Fahrradinitiative Bicis pa‘ la banda = Fahrräder für die Bande ist Teil des edificio de los sueños mitten in der Altstadt von Ciudad Juárez. Sie hat sich, so erzählen Luis Contreras und Luis Garcia, darauf spezialisiert, gebrauchte und defekte Fahrräder zu reparieren oder Fahrradteile zu neuen Rädern zusammenzusetzen. Diese werden dann kostenlos an Menschen gegeben, die mobil sein möchten, aber sich kein eigenes Rad leisten können. Mehrheitlich gingen die Räder daher bislang an Geflüchtete. Zunehmend werden aber auch Kinder mit passenden Rädern versorgt. Da viele Kinder erst gar nicht Radfahren lernen und ihre besonderen Bedürfnisse an die Infrastruktur kein Thema in Juárez ist, hat Bicis pa‘ la banda erstmals eine Fahrraddemo für Kinder organisiert. Zudem hat sie ein „Fahrradministerium“ gegründet, um Aufklärungsarbeit über die Gefahren des Autoverkehrs für die Gesundheit zu leisten. Dazu werden die in Mexiko auf Lebensmittel üblichen Warnhinweise wie z.B. vor übermäßigem Zucker oder Kalorien (exceso des azúcares/ de calorías) um die Variante des Autoexzesses (exceso de autos) ergänzt und diese Slogans im öffentlichen Raum geklebt. Bicis pa‘ la banda ist eine von etwa zehn Fahrradinitiativen in Juárez, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen und zusammen größere Aktivitäten durchführen. Für die hohe Anzahl von Initiativen gibt es gute Gründe.
Ciudad Juárez ist mit ca. 1,5 Millionen Einwohner:innen etwa so groß wie München. Da die Gebäude mehrheitlich nicht höher als zweistöckig sind, erstreckt sich die Stadt über eine enorme Fläche. Autos sind das häufigste Verkehrsmittel und die Straßen lassen das eindeutig erkennen: Riesige dreispurige Straßen durchziehen die Stadt. Zufußgehende müssen oft weit laufen, um Ampeln zum Queren zu erreichen. Die Bordsteine sind schmal, wenn sie überhaupt existieren. Dasselbe gilt für Radfahrstreifen. Hohe Geschwindigkeiten von 60 km/h, quietschende Reifen und Hupen sorgen für einen hohen Geräuschpegel, der Stress auslöst. Die Luftqualität ist schlecht, dazu kommt die Hitze in der mit nur spärlichem Grün und dafür umso mehr Asphalt ausgestatteten Großstadt.
Einige Tage später sind wir mit FixieBeat verabredet. Cynthia Lopez de la Fuente ist eine der bekanntesten Gesichter der Gruppe. Als wir dazustoßen, haben sie und weitere Aktivist:innen große Farbrollen in der Hand, mit denen sie den mit flachen Trennelementen von der Fahrbahn abgesperrten Bike Lane am Universitätsgelände ein frisches Grün verpassen. Die Aktion heute findet zusammen mit dem Künstler Kukui Herrera und der NGO „Search for common ground“ statt, die Friedensprojekte initiiert. Die Aktivist:innen in Juárez sind gut vernetzt. Kukui Herrera beginnt, unterstützt von den Anwesenden, den grünen Radstreifen zu verzieren. Dass ein Auto der Policía municipal vorbeifährt, ohne uns eines Blickes zu würdigen, wirkt symptomatisch für den Umgang mit Radfahrenden.
FixieBeat hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Thema Radfahren als gesündere und klimafreundlichere Variante des Individualverkehrs zu promoten. Dazu gehört auch, sich nach Verkehrsunfällen, bei denen Radfahrende zu Schaden kamen, die Familien der Getöteten oder Verletzten zu unterstützen. In Ghost Bike Aktionen werden weiße Räder am Ort des Unfalls aufgehängt und dort öffentliche Schweigeminuten durchgeführt. Es soll sichtbar werden, dass die Stadt für Radfahrende gefährlich ist. Bis 2017 seien 25 Radfahrende in Juárez getötet worden, berichtet Cynthia. Seither sei es zwar etwas besser geworden, aber auch die seither gestorbenen drei bis vier Personen seien zu viel. Die Zahl erscheint verglichen mit München, wo etwa drei bis vier Radfahrende jährlich sterben, eher gering. Wer aber in München unterwegs ist, sieht viele Radfahrende; in Juárez sind es erschreckend wenige, vor allem tagsüber. Auch wenn wir keine Zahlen kennen, liegt die Vermutung nahe, dass die gefahrenen Kilometer in München um ein Vielfaches größer sind als in Juárez. Cargo-Bikes, so Cynthia, gebe es in ganz Juárez z.B. nur zwei.
FixieBeat hat eine Karte von Ciudad Juárez erstellt, auf der alle Orte, an denen Radfahrende zu Tode kamen, markiert sind (https://goo.gl/maps/txhaEJsBstoL54YN6?g_st=aw). Es ist ein Dokument verfehlter Verkehrspolitik mit wachsenden Opferzahlen. Auch hier ist das Problem strukturell angelegt. Regelmäßig setzt sich FixieBeat daher mit den städtischen Verantwortlichen zusammen. Die Verhandlungen sind schwierig, aber nicht gänzlich erfolglos. Cynthia erzählt, dass es mittlerweile 35 km Bike Lanes in der Stadt gebe und ein Teil davon auf ihr Engagement zurückzuführen sei. Und auch der gesellschaftliche Rückhalt wächst: Am 3. Juni folgten zum Internationalen Tags des Fahrrads fast 2 000 Menschen dem Aufruf von FixieBeat zu einer Fahrraddemo. Ein anderer Gesprächspartner, der selbst schon Jahrzehnte kein eigenes Auto mehr hat, erzählt im Verlauf einer Bustour ebenfalls, dass die Situation besser geworden sei. Er fahre schon lange mit dem Rad und mittlerweile sei er weniger alleine. Die Autos hielten mehr Abstand als früher und gewöhnten sich langsam etwas daran, dass auch Radfahrende am Verkehr teilnähmen. Es gebe aber noch viel zu tun.
An jedem letzten Samstag im Monat ruft FixieBeat zur Critical Mass auf. Bei der Septemberfahrt sind wir dabei und FixieBeat stellt uns allen Fahrräder zur Verfügung, um sie zu begleiten. Hier treffen wir auch Luis und Luis wieder. Mit rund 150 Menschen bei Nacht zwischen den Autos auf den mehrspurigen Straßen entlang zu fahren, führt zu einem Adrenalinschub. Aus Angst, weil viele Autofahrer deutlich machen, dass sie sich auf „ihren“ Straßen gestört fühlen. Vor Freude, dass die schwächeren Verkehrsteilnehmenden immer wieder eine kritische Masse erzeugen, die aufheulenden Motoren zum Stillstand zu bringen und deutlich machen, dass die Straße eben nicht nur für Autos da ist. Seit acht Jahren gibt es die Gruppenfahrten – passiert war bislang nie etwas. Bis auf heute: Eine Radfahrerin wird von einem Auto erfasst und auch wenn das Tempo beider Fahrzeuge nur gering ist, fällt sie so unglücklich, dass sie von einem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren werden muss. Lange stehen die rund 150 Aktiven noch mit den Rettungswagen und der Polizei am Unfallort. Aus Gründen der Solidarität der Radaktivist:innen untereinander und mit der Verletzten endet die Fahrt heute hier. Wir wünschen ihr rasche Heilung ohne bleibenden Schäden. Und den Radfahrenden in Juárez wünschen wir keinen weiteren Verkehrsopfer und zeitnahe Erfolge in ihren Kampf um die Straßen.
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