Aus dem Blog unserer Reise nach Mexiko 2024
Von Jenny
Wir verlassen Ciudad Juárez in Richtung Südosten, unser Ziel: das Valle de Juárez (Juárez-Tal). Die Hauptstraße, auf der wir unterwegs sind, verläuft parallel zum Grenzfluss Río Bravo (engl. Río Grande). Die Grenzmauer zu den USA zu unserer Linken ist immer in Sichtweite. Das landwirtschaftlich geprägte Tal mit etwa 80 Gemeinden wird von Kartellen kontrolliert und ist seit dem Drogenkrieg kein Ausflugsziel für Besucher*innen mehr. In den vergangenen Jahren wurden dort wiederholt Massengräber und Frauenleichen entdeckt.
Ein Regionalmuseum als Zentrale der Anti-Atomkraft-Bewegung
In dem kleinen Ort San Augustín befindet sich das Regionalmuseum Museo Regional del Valle de Juárez. Nach einem Museumsrundgang nehmen wir gemeinsam mit Aktivist*innen der Anti-Atomkraft-Bewegung an einer langen Tafel Platz. Die Aktivist*innen tagen heute im Museum, um den 26. Jahrestag des erfolgreichen Widerstands gegen das geplante Atommüllendlager Sierra Blanca zu organisieren. 1991 wollte die US-Regierung direkt an der Grenze ein Endlager errichten. Daraufhin formierte sich in den USA und Mexiko breiter Protest gegen das Vorhaben. Ins Leben gerufen wurde die binationale Bürger*innenbewegung von Manuel Robles, einem Lehrer und Gründer des Regionalmuseums. So kam es, dass sich der Widerstand aus dem kleinen Museum heraus organisierte und sich viele Menschen im Tal, darunter auch viele Jugendliche und Schulkinder, an den Protesten beteiligten.
Radioaktiver Unfall als Auslöser für Umweltbewusstsein
Ausschlaggebend für das entschlossene Handeln der Zivilgesellschaft war ein Unfall mit radioaktiven Baustoffen, der sich 1983 ereignet hatte: auf einem Schrottplatz in Ciudad Juárez wurde unwissentlich eine Kobaltkanone zur Strahlentherapie zerlegt, recycelt und als Baumaterial im ganzen Stadtgebiet und darüber hinaus verteilt. Die Einzelteile wurden zwar eingesammelt, doch die gesundheitlichen Folgen blieben weitgehend unerforscht. Dieses Ereignis hat dazu beigetragen, die Bevölkerung für die Risiken radioaktiver Strahlungen zu sensibilisieren und den Widerstand der Bevölkerung gegen das Projekt Sierra Blanca gestärkt.
Erfolge und aktuelle Kämpfe
Nach sieben Jahren sozialen Widerstands wurde das Endlagerprojekt im Oktober 1998 von der US-Umweltkommission zurückgezogen. Zahlreiche gerahmte Fotos, Bilder, Bücher und Gegenstände im Museum zeugen vom jahrelangen Protest. Die Aktivist*innen berichten von weiteren verheerende Umweltskandalen in der Region wie einer Bleivergiftung des Río Bravo durch eine Fabrik, die bei Kindern Gehirnschäden verursachte. Wie beim Projekt Sierra Blanca handele es sich dabei um „Umweltrassismus“, der sich oft an „borders as backyard of powerful countries“, also in von einflussreichen Ländern als Hinterhöfe ausgenutzten Grenzgebieten abspiele. Angesichts dessen ist auch weiterhin eine starke Zivilgesellschaft gefragt, um gegen die Narcokultur und ein geplantes Bergbauprojekt zu kämpfen, das die Wasserprobleme im Juárez-Tal verschärfen könnte.
Kulturzentrum OKUVAJ: ein Gegenentwurf zur Narcokultur
Etwa 20 Autominuten südöstlich vom Regionalmuseum entfernt, befindet sich die Gemeinde Casetas. Dort wurde im März 2024 das Kulturzentrum OKUVAJ eröffnet, das der Narcokultur im ländlichen Raum etwas entgegensetzen will, wie Alejandro „Mono“ González berichtet. Er selbst hat als Kind an den Protesten gegen das Sierra Blanca-Vorhaben teilgenommen, sich in der Bewegung politisiert und engagiert sich heute in der Kinder- und Jugendarbeit. Gemeinsam mit Aktivist*innen und Kulturschaffenden hat er das OKUVAJ als Ort geschaffen, um Kindern und Jugendlichen im Juárez-Tal einen kulturellen Rückzugsort zu bieten und den kriminellen Banden klangheimlich den Nachwuchs zu entziehen. Die am Grenzzaun allgegenwärtigen Kartelle rekrutieren bereits Minderjährige: mit 12 bis 15 Jahren kommen viele Jugendliche erstmals mit Dealer*innen in Kontakt, ab 16 übernehmen sie oft kleinere Aufgaben für die Kartelle. Das OKUVAJ, als „Kartell-freier Ort“, soll Perspektiven jenseits der organisierten Kriminalität aufzeigen. Der Name OKUVAJ steht für „Okupa cultural Valle de Juárez“ (Kulturelle Besetzung Juárez-Tal).
Angebote und Aktivitäten im OKUVAJ
Vor dem einstöckigen Gebäude mit dem Schriftzug OKUVAJ über der Eingangstür befinden sich einladende Holzbänke und diverse Hochbeete. Auch außerhalb der Öffnungszeiten können sich Jugendliche hier mit kostenlosem WLAN und Bluetooth-Lautsprechern, die an der Hauswand befestigt sind, die Zeit vertreiben. Früher gab es im Ort ein Kino und viele Kneipen, die jedoch dicht gemacht haben, nachdem der örtliche Grenzübergang geschlossen wurde und das Publikum ausblieb. An öffentlichen Treffpunkten und Verkehrsmittel mangelt es im Juárez-Tal, weshalb viele Jugendlichen auch von weiter weg zu Fuß oder mit dem Rad ins OKUVAJ kommen oder von Freiwilligen mit dem Auto abgeholt werden. Das Gebäude selbst ist eine ehemalige eine Fleischerei, die 15 Jahre leerstand, bevor Freiwillige aus Ciudad Juárez und anderen Orten, es wieder zum Leben erweckten. Mit Hilfe einer Förderung des Fondo Transfronterizo, der Kulturprojekte in Grenzregionen fördert, konnten notwendige Renovierungen sowie ein Aufnahmestudio finanziert werden. Im Inneren des OKUVAJ gibt es eine Videospielecke, Musikinstrumente, Bücher und Sitzgelegenheiten. Küche und Gemeinschaftsgarten sind in Planung. Neben offenen Freizeitangeboten finden regelmäßig Workshops statt, die von Freiwilligen aus Ciudad Juárez angeleitet werden; für weitere Programme kooperiert das Kulturzentrum mit Schulen. Unser Gesprächspartner Mono weiß, dass es Zeit braucht, das OKUVAJ zu etablieren. Zwar gab es bisher schon Sportangebote im Tal, doch ein kulturelles Zentrum wie dieses ist bisher einzigartig.