Politische Reise vom 02.-18. September 2011
Im letzten Jahrzehnt hat das außenpolitische Gewicht der Türkei stark zugenommen, auch jenseits von NATO- und G 20-Mitgliedschaft spielt die Türkei verstärkt und mindestens seit dem letzten Irakkrieg eine bedeutsame Rolle als Regionalmacht an der Südostgrenze der EU. Gleichzeitig vollzieht sich ein z. T. rasanter innergesellschaftlicher Wandel in Zeiten neoliberaler Umstrukturierung und der globalen Wirtschaftskrise. So kommentierte eine Tageszeitung beim letztjährigen Besuch des deutschen Bundespräsidenten: „Wulff erlebte eine Gesellschaft im Umbruch, eine neue Türkei: ein Land, das nicht nur wirtschaftlich die Muskeln spielen lässt, sondern das auch außenpolitisch zunehmend selbstbewusst auftritt und eine Führungsrolle im Nahen Osten, vielleicht sogar in der islamischen Welt, anstrebt.“ (FR vom 21.10.2010)
Die Türkei wird seit Langem als Brücke, Scharnier oder Mittler wahlweise zwischen „Abendland“ und „Orient“, Europa und dem Nahen Osten bzw. „dem“ Islam bezeichnet – und so ein Stück weit auch als notwendiger Vermittler und Übersetzer des „unverstandenen Morgenlands“ für „den Westen“ – ein Bild, das von türkischer Seite auch durchaus wohlwollend angenommen wurde. Mittlerweile scheint sich diese Rolle erweitert zu haben, jenseits eigener Ansprüche auf eine politische Führungsrolle in der Region wird etwa gegenwärtig breiter diskutiert, inwieweit die Türkei nicht ein Ideal und nachzuahmender Prototyp eines demokratischen islamischen Staates für die aktuell im Umbruch stehenden nordafrikanischen und arabischen Staaten sein könnte.
Zugleich wird aber auch immer wieder deutlich gemacht, dass die Türkei eben (noch?) nicht zu Europa gehöre, wie etwa bei den Verhandlungen um eine EU-Mitgliedschaft zu sehen ist. Das Thema Menschenrechte bildet einen Fokus der Kritik, gleichzeitig wird aber auch oftmals ein grundsätzlicher kultureller Antagonismus und eine größere Nähe zu den islamischen Nachbarstaaten behauptet. Und die griechische Grenze zur Türkei als „EU-Außengrenze“ mit Frontex-Beamten aufgerüstet, um das „Tor nach Europa“ für Flüchtlinge abzuriegeln.
Wirtschaftspolitisch sehen einige KommentatorInnen in der Türkei einen „Tigerstaat“ nach südostasiatischen Vorbild, so erlebe das Land gegenwärtig seit dem Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 eine lange Phase politischer Stabilität und den steilsten wirtschaftlichen Aufstieg seiner jüngsten Geschichte, die Wirtschaftsleistung habe sich von 2001 bis 2010 verdreifacht, womit die Türkei auf Platz 17 der weltweit größten Wirtschaftsnationen liege.
Doch der wirtschaftspolische Kurs und innergesellschaftliche Umbau vor und nach der globalen Wirtschaftskrise zeigt seine Folgen in der wachsenden sozialen Ungleichheit und Armut in der Türkei, die Einkommensunterschiede zwischen den sozialen Schichten in der Türkei haben sich deutlich verschärft. In den Großstädten und besonders der Metropole Istanbul ist diese Entwicklung besonders anhand des städtebaulichen Wandels und der Gentrification zu sehen. Gerade Istanbul wird seit einigen Jahren zu einem „strahlenden Finanz-, Kultur-, Messe- und Tourismuszentrum umgestaltet“ (dradio). Dabei werden diejenigen, die nicht in dieses Bild passen (sollen), auf neue Wohnungsiedlungen am Stadtrand verwiesen und ganze Stadtteile wie etwa Sulukule, das wohl älteste Roma-Viertel der Welt, in ihrer historischen Struktur zerstört.
Doch gegen diese Entwicklungen und ihre Folgen regt sich neuer und alter Widerstand. In der Türkei gibt es eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen, die teilweise seit Jahrzehnten aktiv sind und trotz vielfältiger Behinderungen und Repressionen auch einige Erfolge errungen haben.
Ziel der Reise ist, mit einigen dieser Initiativen zu sprechen und so mehr über den aktuellen Wandel in der Türkei zu erfahren. Von unseren möglichen GesprächspartnerInnen aus den verschiedensten Bereichen (Frauen- und Menschenrechte, Jugendpolitik, (Arbeits)Migration, Islam, Gewerkschaften, LGBT, Stadtteilinitiativen, Antisemitismus, Kurdistan-Konflikt) möchten wir erfahren, was sie als die wichtigsten Probleme sehen, wie sich in ihren Augen die türkische Gesellschaft verändert hat, wo sie heute steht und was sie tun, um selbst Veränderungen zu erreichen.
Dabei können wir aus einer Vielzahl von Kontakten schöpfen, die Auswahl möglicher GesprächspartnerInnen und ihre Spezialisierungen sind groß. Wie wir konkret unser Programm gestalten, werden wir gemeinsam auf einem Vorbereitungsseminar entscheiden, das voraussichtlich im Juli stattfindet.
Wir werden mehr als eine Woche in Istanbul verbringen, sicher auch das Zentrum zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Türkei, um dann über Ankara in den Südosten nach Diyarbakır zu reisen, wo wir uns mit den spezifischen Konflikten und Perspektiven befassen wollen.
Orte: Istanbul, Ankara, Diyarbakır.
Termin: 02.-18. September 2011.
Teilnahmebeitrag: ca. 700-850 Euro. Im Teilnahmebeitrag sind Vorbereitungstreffen, Flugkosten, Fahrtkosten per Bus und Inlandsflüge im Land sowie Unterkünfte enthalten.
Auf Wunsch kann für diese Veranstaltung die Anerkennung als Bildungsurlaub nach dem Berliner Bildungsurlaubsgesetz beantragt werden. Die Anerkennung in anderen Bundesländern hängt von deren Rechtslage ab.
Leitung: Marc Schwietring (tuerkei@iak-net.de)