Intro
Als
wir im Dezember 2002 in Berlin in den Zug stiegen, um in die
eisige Kälte Belgrads aufzubrechen, wussten wir zumindest
schon, wer uns erwartet. Der erste Teil des Austauschs
zwischen einer Gruppe von StudentInnen und jungen
AkademikerInnen aus Belgrad, die in die Proteste gegen
Milosevic involviert waren, aber durchaus sehr
unterschiedliche politische Positionen vertreten, und uns,
einer Gruppe hauptsächlich bestehend aus in verschiedenen
linken Zusammenhängen Agierenden, hatte bereits im
Oktober 2002 in Berlin stattgefunden.
Der
Austausch fand im Rahmen der politischen Reisen des
Internationalen Arbeitskreises (IAK e.V.) statt, der bereits
Kontakte nach Belgrad hatte. Diskussionen über
Nationalismus und Rassismus, die beiden inhaltlichen
Schwerpunkte des Projektes, sollten in Belgrad fortgesetzt,
neue Perspektiven eingefangen und viele Fragen gestellt
werden. Zudem ging es natürlich darum, eine neue Stadt zu
erkunden und etwas vom Leben und Alltag unserer
AustauschpartnerInnen mitzubekommen. Herzlich wurden wir von
ihnen am Bahnhof in Belgrad empfangen und zu unseren
verschiedenen Unterkünften gebracht.
Unsere
Berliner Gruppe hatte sich erst explizit aus Anlass des
Austausches zusammengefunden, obwohl einige sich bereits
vorher kannten. Für viele von uns war insbesondere der
Kosovokrieg 1999 Anlass gewesen, sich mit der Situation in
Jugoslawien auseinander zu setzen. Der erste deutsche
Kampfeinsatz seit 1945 wurde als „humanitäre
Intervention" verkauft und damit begründet, im
Kosovo „ein neues Auschwitz" verhindern zu müssen.
Angesichts dessen wollten wir wissen, wie die Menschen vor Ort
die NATO-Bombardements empfunden und eingeschätzt haben.
Die anti-serbische Propaganda in den deutschen Medien zu
Zeiten Milosevics sowie das Schweigen und die unzureichende
Analyse des größten Teils der deutschen Linken
veranlassten uns, sich vor Ort mit den Veränderungen der
letzten zehn Jahre in Serbien zu beschäftigen.
Überraschend war für einige von uns vor allem die
Tatsache, dass einige Menschen, mit denen wir sprachen,
Hoffnungen in die Bombardierungen gesetzt hatten. Die
Ambivalenz aus der eindeutigen Positionierung der deutschen
Bundesregierung auf Seiten der Kosovo-Albaner und dem breiten
Protest gegen die Regierung in Serbien machte das Land für
uns besonders spannend. Unser Ausgangspunkt war die fatale
Bedeutung der deutschen Jugoslawienpolitik der 90er Jahre für
die Ereignisse auf dem Balkan: Hatte nicht die Bundesregierung
mit ihrer auf deutsche Kontinuitäten verweisenden „Öl
ins Feuer"-Politik (das heißt mit der raschen
Anerkennung Sloweniens und Kroatiens) den Konflikt überhaupt
erst richtig angeheizt? Zentral sollte für uns die Frage
nach den sehr unterschiedlichen Funktionen des Nationalismus
in Deutschland und (Ex-) Jugoslawien sein, insbesondere
bezüglich einer Ethnisierung sozialer Konflikte.
Eine
weitere Motivation war unsere Kritik an der europäischen
Flüchtlingspolitik. Viele der in Deutschland lebenden
Flüchtlinge aus (Ex-) Jugoslawien, insbesondere Roma,
waren e ntweder Opfer der „humanitären
Interventionen", das heißt der NATO-Bombardements
auf Jugoslawien, oder Opfer der anschließenden
Vertreibungen durch albanische Nationalisten, die erst durch
die Politik der NATO-Staaten an Macht gewonnen hatten. In
Deutschland hingegen wurden die Vertreibungen als Folge
innerjugoslawischer Auseinandersetzungen betrachtet, für
die keine weitere Verantwortung übernommen werden müsse.
Im Gegenteil, die Abschiebungen in Flüchtlingslager und
Slums wurden unter dem beschönigenden Namen „Rückführung"
als Bestandteil der humanitären Hilfsaktion verkauft.
Für
den Berliner Teil des Programms hatten wir uns vor allem zum
Ziel gesetzt, die Ausgrenzung und Diskriminierung von
Nichtdeutschen in Deutschland und den rapiden Anstieg von
Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus seit der
sogenannten Wiedervereinigung aufzuzeigen. Eventuell zu
positive Bilder von Deutschland bei unseren Belgrader
AustauschpartnerInnen sollten so revidiert werden. Ein
inhaltlicher Schwerpunkt des Berlin-Programms war die
Situation von Flüchtlingen, sowohl als Folge des Krieges
im Kosovo, als auch aus der Perspektive der
Flüchtlingsselbstorganisierung. Auf dem Programm stand
ein Vortrag von Helmut Dietrich von der Forschungsgesellschaft
für Flucht und Migration (FFM) über den Krieg im
Kosovo unter dem Aspekt der Kooperation zwischen der NATO,
verschiedenen NGOS und der EU und deren Strategien zur
Flüchtlingsabwehr. Außerdem trafen wir uns mit der
Flüchtlingsinitiative
Brandenburg in einem Flüchtlingsheim in Brandenburg
und einer Roma-Gruppe, die gegen ihre Abschiebungen Aktionen
organisiert. Zum Schwerpunkt Rassismus in Deutschland seit der
Wiedervereinigung sahen wir den Film The Truth Lies in Rostock
über das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen
1993, den wir mit Heike Kleffner diskutierten, einer
Journalistin, die damals vor Ort war. Über die aktuelle
Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland und den
ansteigenden Antisemitismus redeten wir mit Vertretern des
Bündnisses
gegen Antisemitismus und Antizionismus und des
Bundesverbands
Jüdischer Studenten in Deutschland. Außerdem
fand ein Besuch in der KZ-Gedenkstätte
Sachsenhausen und im Antifaschistischen
Pressearchiv statt. Durch die Diskussion eines Vortrags
zum Thema Normalisierung, der in überarbeiteter Form in
dieser Broschüre abgedruckt ist, und anhand der
Kurzfilmreihe Normalisierung von Hito Steyerl, versuchten wir,
die Veränderungen in Deutschland historisch und
theoretisch einzubetten. Abends wurde neben den üblichen
Kneipenbesuchen vor allem die schwul-lesbische Szene erkundet.
Die
Idee des zweiten Teils des Austausches im Dezember in Belgrad
bestand darin, einen Bogen zwischen den Ereignissen in Berlin
und Belgrad zu spannen, die unterschiedlichen Erfahrungen
auszutauschen und über serbischen und deutschen
Nationalismus in Zusammenhang mit Rassismus, Antisemitismus,
Antikommunismus und (im Falle Serbiens) der neuen Rolle der
orthodoxen Kirche zu diskutieren. Zugleich hatten wir ein
Interesse an feministischen Positionen und der Situation von
Lesben und Schwulen, die durch Berichte über den von
Hooligans überfallenen CSD 2001 in Belgrad traurige
Berühmtheit erlangt hatten. Außerdem interessierten
uns die ökonomischen Veränderungen seit dem
5.Oktober 2000, dem Sturz Milosevics. Wir wollten Gruppen
treffen, die auch heute noch einen Bezug zu Kommunismus und
linker Gesellschaftskritik aufrecht erhalten, wollten etwas
über die Situation von Roma in Jugoslawien erfahren und
uns natürlich last but not least über die Gründe
für die Bürgerkriege in den 90er Jahren klarer
werden. Unsere Belgrader GastgeberInnen haben sich größte
Mühe gegeben, unsere Wünsche unter einen Hut zu
bringen, doch reichten zehn Tage für eine angemessene
Reflexion unserer Gespräche und Diskussionen einfach
nicht aus. Am Ende der beiden Besuche stand die Einsicht, dass
zwar ein Einblick in die jeweils andere Welt vermittelt werden
konnte, aber ein Austausch, der seinem Namen gerecht wird,
eigentlich erst jetzt, mit der Kenntnis der unterschiedlichen
persönlichen wie politischen Hintergründe, beginnen
könnte. Um das Projekt unseres Austausches in diesem
Sinne mit einer Dokumentation und Reflexion unserer Eindrücke
aus Belgrad fortzuführen und auch, um anderen an
Jugoslawien Interessierten einen Einblick in aktuelle dortige
Diskussionen zu geben, haben wir diese Broschüre
erstellt. Unsere Artikel können letztlich nur einen
ersten Einblick bieten und neue Fragen aufwerfen, wir haben
auch keineswegs den Anspruch, fertige Positionen zu vertreten.
Einzelne von uns waren nach unserem gemeinsamen Besuch noch
einmal in Serbien und konnten neue Eindrücke gewinnen,
teilweise Fragen beantworten oder zumindest neu stellen.
Einige dieser Eindrücke, vor allem während und nach
der Ermordung von Zoran Djindjic sind deshalb noch zusätzlich
in die Broschüre eingeflossen.
Wir
haben keine thematische Einteilung der einzelnen Artikel
vorgenommen, da viele der Themen so verschiedene Aspekte
umfassen, dass wir uns nicht für übergeordnete
Kategorien entscheiden konnten und wollten.
Zum
Schluss möchten wir unseren Belgrader Freundinnen und
Freunden ganz herzlich für ihre organisatorische Arbeit,
ihre unerschöpfliche Diskussionsbereitschaft und ihre
überwältigende Gastfreundschaft danken. Ohne sie
hätten die Gespräche und diese Broschüre nicht
zu Stande kommen können, und wir hätten niemals so
viel über Belgrad und seine BewohnerInnen gelernt.
Die
Redaktion
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