"Mythos
Odessa"
Ein Gespräch
bei der International All-Ukraine Odessa Associations of Jews
"Was wollen
Sie denn nun wissen? Jüdisches Leben und Antisemitismus sind
nicht das gleiche!" - wir waren unvorbereitet in das
Büro der International All-Ukraine Odessa Associations of
Jews gekommen. Uns saßen vier ältere Damen gegenüber,
die entweder rauchten oder sich im Internet vertieften und uns
keines Blickes würdigten. Die Antwort kam auf unsere
umständliche Frage, ob sie der kleinen Gruppe aus
Deutschland etwas zum Alltagsleben in der Ukraine und in Odessa,
zur Geschichte der Juden und zum Umgang mit der Shoah in der
Ukraine erzählen könnten. Wir werden an die
Studentengruppe Migdal ein paar Räume weiter
gereicht, die uns dann plötzlich verdutzt gegenüber
sitzen.
Alle unsere
Gesprächspartner studieren. In Odessa sind durch die
Sowjetregierung eine Universität, polytechnische und
medizinische Schulen, eine Marineakademie und ein Konservatorium
gegründet worden. Sie alle sind noch ohne große
Studiengebühren zugänglich. Das breite funktionierende
Bildungssystem unterschiedet die Ukraine von einem Großteil
der sogenannten Dritten Welt. Wie selbstverständlich sind
auch bei unseren Gesprächspartnern die Studienfächer
nach der ökonomischen Notwendigkeit ausgewählt:
Entweder eine Naturwissenschaft, eine Sprache oder am häufigsten
Wirtschaft. Verständlicherweise wollen unsere
Gesprächspartner sich nicht auf die Rolle des "Juden in
Odessa" reduzieren lassen. Bevor wir zum geplanten
Gesprächsthema kommen, erzählen sie von der Stadt.
Odessa wird uns als der wichtigste Handels- und Fischereihafen
der Ukraine vorgestellt. Für uns von Interesse seien aber
eher die vielen Museen, Theater und das Opernhaus. Die Geschichte
der Stadt geht auf eine griechische Kolonie zurück, die im
Altertum an der Stelle der heutigen Stadt bestanden habe. Die
berüchtigten Krimtataren trieben hier im 14. Jahrhundert
Handel. Odessa selbst wurde 1794 als russische Marinefestung auf
einem der Türkei abgerungenen Boden von Zarin Katharina II.
gegründet.
Vom "Glanz der
Perle am Schwarzen Meer" ist wenig übrig geblieben.
Die Studierenden
erzählen von der wirtschaftlichen Stagnation, die die Stadt
genauso wie die gesamte Ukraine trifft. Im Hafen, einst
wirtschaftliches Zentrum der Stadt, arbeitet nur ein Viertel der
riesigen Lastkräne. Viele Industriebetriebe haben die
Produktion heruntergefahren oder liegen ganz still. Am Pier für
die Passagierschiffe legen die meisten Kreuzfahrtschiffe nur für
ein paar Stunden an. Die Stadt, ihre Straßen, die privaten
und öffentlichen Gebäude, die Busse und Trams sind seit
1990 dem Verfall ausgesetzt. Der erhoffte Aufschwung durch die
Einführung des Kapitalismus ist nach dem Zusammenbruch des
Sowjetsystems ausgeblieben.
Zu Sowjetzeiten
gehörte die Stadt zur Ukrainischen Sozialistischen
Sowjetrepublik. Odessa war vor 1991 Industriezentrum und wegen
des milden Klimas ein beliebter Erholungsort. Der Reichtum der
Stadt ist verschwunden. Allenfalls an den Fassaden der
Stadthäuser ist er noch abzulesen. Die Armut ist deutlich
sichtbar. Es ist kaum möglich, auf der Strasse zu gehen,
ohne Menschen zu sehen, die die Mülltonnen nach Essbarem
durchwühlen. Offiziell ist die Arbeitslosigkeit zwar
niedrig, aber an diese Ziffern glaube nicht einmal mehr der
Bürgermeister. Jeder zweite lebe in Odessa in Armut, so die
Antwort auf unsere Frage nach dem Alltagsleben in Odessa. Später
lesen wir im Reiseführer von 100 Euro Durchschnittseinkommen
im Monat und 20 Euro gesetzlicher Rente bei einem Preisniveau,
das sich immer mehr den westlichen Verhältnissen angleicht.
Lediglich die Grundnahrungsmittel wie Brot, Wodka oder Fleisch
kosten etwa 50% der westlichen Preise. Die meisten Familien
unserer Gesprächspartner leben in kleinen Ein- bis
Zweizimmerwohnungen. Nur wenige Menschen besitzen eine
Eigentumswohnung. In der Stadt sind die Appartements mit Strom,
Wasser und Gas ausgestattet, "während Häuser auf
dem Land viel schlichter sind". Der im Kopf immer wieder
umherschwirrende Vergleich mit anderen Ländern will auch an
dieser Stelle nicht passen: Verwiesen werden wir auf das
vorbildlich funktionierende System des öffentlichen
Personenverkehrs, der vor 1999 sogar kostenlos war. Straßenbahnen
und Busse sind die wichtigsten Verkehrsmittel in Odessa, ein Auto
ist für die meisten unerschwinglich.
Auf den absehbaren
ökonomischen Zusammenbruch wird schon seit der
Unabhängigkeit mit einem autoritären ukrainischen
Nationalismus reagiert. Dieser macht sich vor allem an der
Bezugnahme auf das Kiever Rus des 9. bis 12. Jahrhunderts - die
erste Ostlawische Staatsbildung - fest, das gegen Rußland
in Anschlag gebracht wird. Das nationale Symbol der Ukraine, der
Tryzub, war das Hoheitszeichen der Herrscherfamilie der Kiever
Rus. Der Tryzub, der einen Dreizahn symbolisiert, war auch das
Erkennungszeichen der nationalistischen Bandera-Bewegung, die von
der Wehrmacht in der Westurkraine ausgebildet wurde. Eine
ähnliche Geschichte hat das Staatswappen, das im Zweiten
Weltkrieg das Symbol der SS-Division Galizien war.
"Wir hoffen,
dass dieser Spuk mit der Sprache bald aufhört"
Motor des
ukrainischen Nationalismus und alltägliches Ärgernis
ist die Sprachenpolitik der Regierung in Kiew. Das Ukrainische
ersetzt das Russische. Ukrainisch ist nun Staats-, Amts- und
Schulsprache. Letzteres allerdings nur begrenzt, weil es noch
nicht genug Lehrer dafür gibt. Die ukrainische Sprache ist
vom Russischen etwa so weit entfernt ist wie das Niederländische
vom Deutschen. Für die Odessiten handelt es sich schlicht um
einen Bauerndialekt des Russischen. Groß ist jedoch die
Erregung über die Sprachenpolitik Kiews auch bei Migdal
nicht. Zu Sowjetzeiten war die Staatssprache Russisch, das
Ukrainische war nur Folklore. In Odessa, das von seinen Bewohnern
schon immer als internationale Stadt verstanden wurde, spielt
Ukrainisch sowieso eine untergeordnete Rolle. Im Alltag haben die
Studierenden längst ihren Ausweg mit der verordneten Sprache
gefunden: Sie reden Russisch, schreiben Russisch, sehen
russischsprachige Fernsehprogramme - im Gegensatz zu den Sendern
des Staates, wo nur Ukrainisch gesprochen wird. "Wir
hoffen, dass dieser Spuk mit der Sprache bald aufhört"
, unsere Gesprächspartner scheinen sich alle einig zu
sein. Der Bürgermeister macht keine Ausnahme erfahren wir.
Auch er redet mit seiner Sekretärin Russisch.
Jüdisches
Leben in der Ukraine
Bevor wir zur
Geschichte der Juden in der Ukraine kommen, weisen uns unsere
Gesprächspartner auf die dominierende Rolle des Christentums
in der Ukraine, hauptsächlich vertreten durch die
ukrainisch-orthodoxe, die römisch-katholische und die
ukrainisch-katholische Kirche, hin. Die Kirche spiele eine
wichtige Rolle in der Gesellschaft, auch für die Meinung
gegenüber den Juden. Zur Zeit des "Kommunismus"
wurde die Religionsausübung nicht gern gesehen, aber nachdem
Gorbatschow Ende der achtziger Jahre die Religionsfreiheit
einführte, kam es zu einer Aufschwung der Religiosität
in allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Seit der
Unabhängigkeit hat sich dieser Trend in der Ukraine
fortgesetzt. Dies gilt auch für das Judentum, das in der
Stadt mit Hilfe des amerikanischen Joint durch mehrere
Synagogen, Klubs und ein Gemeindezentrum wieder präsent ist.
Außer Juden leben noch andere "minorities" in
Odessa: Russen, Weißrussen, Moldauer, Polen, Ungarn und
Rumänen. Auch werden wir auf die neue Moschee in Odessa und
das islamische Gemeindezentrum hingewiesen. Dort sollen Spenden
für Osama Bin Laden gesammelt worden sein, aber so genau
weiß das dann auf Nachfrage auch niemand.
Wir fragen nach der
Geschichte Odessas vor dem Zweiten Weltkrieg, nach der Jüdischen
Geschichte vor der Shoah. Die Jüdische Minderheit bildet
heute einen wesentlich kleineren Bevölkerungsanteil als vor
der Massenvernichtung. Trotzdem gilt Odessa heute mit über
40.000 Juden als ein sehr bedeutendes Zentrum jüdischen
Lebens innerhalb der einstigen UdSSR, auch wenn Juden in der
Stadt kaum sichtbar sind. 40.000 Menschen, das sind 5 Prozent
aller Juden der ehemaligen Sowjetunion in der Stadt, rechnen wir
nach dem Gespräch aus.
Erstmals siedelten
sich Juden nach 1800 in Odessa an. Odessa wurde Mittelpunkt der
intellektuellen Haskala, der jüdischen Aufklärung. Die
Stadt hat seit ihrem Bestehen bedeutende Jüdische
Persönlichkeiten hervorgebracht. Verwiesen werden wir von
unserem Gegenüber auf den Dichter Chajim Bialik, den großen
zionistischen Politiker Vladimir Jabotinskij und auf den
Historiker Simon Dubnow. Im späten 19. und im 20.
Jahrhundert war die Stadt das bedeutendste jüdische-literarische
und zionistische Zentrum im zaristischem Rußland. Im Zuge
der Oktoberevolution 1917 erhielten die Juden kurzzeitig eine
kulturelle Autonomie, die jedoch schon bald wieder abgeschafft
wurde. Besonders litten die Juden unter dem Bürgerkrieg, der
vielfach zu antijüdischen Progromen führte. In den
ersten 20 Jahren der Sowjetunion erblühte in Odessa ein
reiches Jüdisches Geistesleben, das jedoch immer stärkeren
Repressionen unterworfen wurde und später faktisch aufhörte
zu existieren. Die meisten Juden waren in den 30er Jahren
Facharbeiter, Mitglieder der technischen Intelligenz. oder
Freiberufler. Vor der Shoah lebten noch 180.000 Juden in Odessa.
Zwischen 1941 und 1944 wurden alleine in Odessa fast 100.000
Menschen ermordet. Mehrere Tausend jüdischer Überlebenden
sind von ortsansässigen Ukrainern und Russen versteckt
worden. Zwar wurde Odessa nach dem Krieg abermals ein bedeutendes
Jüdisches Zentrum, aber unter Stalin konnte sich keine
Jüdische Kultur mehr entfalten: Synagogen wurden
geschlossen, Rabbiner in Arbeitslager deportiert. Latenter
Antisemitismus und Benachteiligungen im Arbeitsleben waren an der
Tagesordnung. Das änderte sich auch unter seinen Nachfolgern
kaum. Allein wurde es einzelnen Jüdischen Familien seit Ende
der sechziger Jahre gestattet, nach Israel auszuwandern.
"You know...
the people don't like Jews"
Unsicher reagieren
die Studenten auf die Frage nach einer Einschätzung des
aktuellen Antisemitismus. Sie sind sich unsicher, was die ihnen
gegenübersitzende Gruppe von Deutschen zu hören
erwartet. Die Antwort fällt knapp aus: "Es gibt
heute keinen Antisemitismus in Odessa" . Wir versuchen
unsere Frage anders zu formulieren: "Was ist vom sogenannten
liberalen Geist Odessas im Bezug auf den Umgang mit Jüdinnen
und Juden zu halten?" Der liberale Geist von Odessa sei
überwiegend Mythos. "Gewiss, die Leute lassen sich
über die ukrainische Obrigkeit und ihre Entscheidungen aus,
aber bei den Juden hört die Liberalität auf."
Schließlich ist die Ukraine das Land, indem mit dem
Chmielnicki-Pogrom einer der blutigsten antijüdischen
Ausschreitungen vor der Shoah stattfand. Die Haltung gegenüber
Juden unterscheide sich heute nicht groß von den auch in
anderen ehemaligen Sowjetrepubliken vorherrschenden Vorurteilen.
Schon im Kindergarten werde nicht mit Juden gespielt. Häufig
werden die negativen Einstellungen auch in verächtliche
Witze über Juden verpackt. "You know ... the people
don't like Jews" ist die Zusammenfassung, auf die sich die
Anwesenden einigen können. Von dem ukrainischen Staat
erwarten sich unsere Gesprächspartner keine Hilfe. Sie sind
froh, dass er sich aus ihren Angelegenheit heraus hält.
Immerhin hat er ein Denkmal für die Opfer der Shoah in
Odessa aufstellen lassen.
Auswanderung? Keine
Frage!
Schließlich
die letzte Frage: "Wie steht ihr zu der Frage der
Auswanderung nach Israel?" . Sie wird mit einem
allgemeinen Lächeln beantwortet. Eine eindeutige Antwort
gibt es nicht. Reihum werden die Anwesenden befragt. Alle
schätzen ihre Zukunftschance als nicht so schlecht in Odessa
ein. Doch eindeutiger, als die Frage nach einer beruflichen
Zukunft fällt das Urteil über die Lage in Israel aus.
In der augenblicklichen Situation ziehen sie es vor, erst einmal
ihr Studium in Odessa zu beenden und dann weiterzusehen.
Timo
Reinfrank
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